Der Blick in den Spiegel: Lyrikerinnen
- Thema
- Lyrik Geschlechtergerechtigkeit Droste BNE
- Alter
- 14–19
- Dauer
- 120 Minutenmehrere Tage
- Material
- Bild Text
- Aktionen
- Sprache
- Deutsch
Süße Ruh', süßer Taumel im Gras,
Von des Krautes Arom umhaucht,
Tiefe Flut, tief, tief trunkne Flut,
Wenn die Wolk' am Azure verraucht,
Wenn aufs müde schwimmende Haupt
Süßes Lachen gaukelt herab,
Liebe Stimme säuselt und träuft
Wie die Lindenblüth' auf ein Grab.
Wenn im Busen die Todten dann,
Jede Leiche sich streckt und regt,
Leise, leise den Odem zieht,
Die geschloss'ne Wimper bewegt,
Todte Lieb', todte Lust, todte Zeit,
All die Schätze, im Schutt verwühlt,
Sich berühren mit schüchternem Klang
Gleich den Glöckchen, vom Winde umspielt.
Stunden, flücht'ger ihr als der Kuß
Eines Strahls auf den trauernden See,
Als des zieh'nden Vogels Lied,
Das mir niederperlt aus der Höh',
Als des schillernden Käfers Blitz
Wenn den Sonnenpfad er durcheilt,
Als der flücht'ge Druck einer Hand,
Die zum letzten Male verweilt.
Dennoch, Himmel, immer mir nur
Dieses Eine nur: für das Lied
Jedes freien Vogels im Blau
Eine Seele, die mit ihm zieht,
Nur für jeden kärglichen Strahl
Meinen farbig schillernden Saum,
Jeder warmen Hand meinen Druck
Und für jedes Glück meinen Traum.
Einen Umweg zum Gedicht nehmen
Mache dir Notizen zu deinen ersten Eindrücken, Fragen, Assoziationen, Deutungsansätzen.
Entscheidet gemeinsam, ob das zunächst jede/r für sich macht, ob ihr auch für die weitere Arbeit eine Gruppe bildet oder ob ihr ein kollaboratives Instrument (wie z.B. ein Etherpad) verwendet.
Zu Erinnerung: Zu den ersten Markierungen gehören auch Versnummerierung, Strophennummerierung, Markierung des Reimschemas mit Kleinbuchstaben, Markierungen für das Versmaß mit Akzentzeichen und senkrechten Strichen.
Aufgaben – Fragen – Impulse
- Das Gedicht »Im Grase« trägt schon im Titel, dass das lyrische Ich im Freien auf dem Boden liegt. In einigen anderen Gedichten von Annette von Droste-Hülshoff liegt das lyrische Ich auch in der Natur auf dem Boden und schaut in den Himmel. Für die Dichterin scheint dies ganz besonders zu sein, eine Art Grundhaltung für das Denken und Fühlen.
Um das richtig verstehen zu können, muss man es selbst einmal gemacht haben. Sucht euch also einen Park, eine Wiese, ein Feld. Legt euch auf den Boden, aufs Gras oder besser natürlich ins Gras. Bleibt ruhig liegen und nehmt die Erde unter euch, den Himmel über euch, das Gras, die Bäume um euch herum und euch selbst wahr.
Tipps
- Sucht euch einen Platz, an dem ihr in großem Abstand zu den anderen oder allein liegen könnt.
- Legt nichts zwischen euch und den Boden, das Gras.
- Nehmt euch mindestens eine halbe Stunde Zeit.
- Vergesst nicht, das Handy auszumachen.
- Schließt zwischendurch die Augen und konzentriert euch auf das, was ihr hört, was ihr riecht und was ihr unter eurem Rücken und auf eurer Haut fühlen könnt.
- Öffnet die Augen und erforscht die Tiefe des Himmels und die Veränderungen des Lichts und der Farbe.
Macht euch anschließend Notizen. Wie habt ihr es »im Grase« erlebt?
Berichtet euch gegenseitig im Unterricht davon. Vielleicht macht ihr Kleingruppen, dann erzählt es sich leichter.
[Anmerkung für Lehrer*innen: Diese Übung kann natürlich auch der Textlektüre vorausgeschickt werden oder das Gedicht wird in einem Umschlag mit auf die Wiese genommen und erst dort gelesen.]
Mit anderen Augen lesen
Aufgaben – Fragen - Impulse
Lies das Gedicht »Im Grase« nun noch einmal. Mache dir anschließend zu folgenden Fragen Notizen und besprich sie mit deinen Mitschüler*innen:
Prüfe:
- Fallen dir jetzt andere Dinge auf?
- Wie nimmst du jetzt die Situation »im Grase« wahr?
- Welche Details des Gedichtes werden nun nachvollziehbar?
Begegnung mit ... Pia Kollbach
Quelle: Pia Kollbach
Pia Kollbach wurde 1993 geboren. Als schwerst geistig behindert wurde sie in eine Leverkusener Förderschule eingeschult. Ab August 2002 lernte sie die Facilitated Communication kennen und Kommunikation wurde für sie möglich! Schritt für Schritt hat sie es von der Förderschule bis zur Allgemeinen Hochschulreife im Juli 2016 gebracht. An der Fernuni Hagen absolviert sie derzeit im Fachbereich »Kulturwissenschaften« einen Regelstudiengang.
Pia Kollbach hat schon als Schülerin das Schreiben als Möglichkeit des Ausdrucks und der Kommunikation für sich entdeckt. Die Lyrikerin hat ihre Werke in bisher drei Lyrikbänden veröffentlicht.
Da ich nicht verbal kommunizieren kann, ist Schreiben für mich das Tor zu meiner Mitwelt. So erreiche ich nicht nur mein direktes Gegenüber. Auch hörte ich schon häufig: »Ich wüsste gerne, was Frau Kollbach gerade denkt. « So gebe ich mit Gedichten und Texten auch Einblicke in mein autistisches Hirn. Ich schreibe dafür mit einem Finger auf einer Tastatur. Das braucht Zeit. Für eine DIN A4 Seite benötige ich, wenn ich genau weiß, was ich schreiben möchte, eine Zeitstunde. Das bedeutet auch, dass ich stets aus den Gedanken, die mir durch den Kopf gehen, eine sehr kleine Auswahl treffen muss. Jeder Großbuchstabe kostet zusätzliche zwei Tasten, damit zusätzliche Zeit. Gedichte sind schlichtweg kürzer. Das ist jedoch nur der Zeitfaktor.
Zudem habe ich Spaß am Umgang mit Sprache. Ein Satz eines Prosatextes ist meist schnell geschrieben. Bei Lyrik stehe ich vor der Herausforderung, mit möglichst wenig Worten meine Gedanken und Gefühle auszudrücken. Wenn das prägnant gelungen ist, bin ich mit dem Ergebnis zufrieden. Ein besonderer Genuss ist dabei das Spiel mit der Sprache.
Für den Leser oder Hörer ergibt sich damit Gedankengut, das er bedenken muss. Dabei gibt es kein Richtig oder Falsch. Jeder kommt aus einem anderen Lebenszusammenhang und erschließt sich Lyrik aus seiner Sicht auf eine bestimmte Art und Weise. Ich mag auch die Diskussionen darüber und ich mag es, wie unterschiedlich verschiedene Interpreten die gleiche Lyrik vortragen. Häufig ergeben sich daraus angeregte Gespräche.
Inhaltlich sind meine Gedichte zumeist autobiographisch. Autisten können sich nicht gut verstellen. So gebe ich viel von meinem Leben, meinen Gedanken und Gefühlen preis, wie in dem hier abgebildeten Gedicht. Dennoch sind die Gedichte nicht zwingend zu 100% autobiografisch, auch das ist dichterische Freiheit.
bin so voller gier
will im jetzt und hier
leben
möchte völlig frei
dabei auch mal high
gern mit dir dabei
erbeben
unabhängig sein
nicht immer ganz klein
auch nicht zum schein
die welt erleben
neues entdecken
manchmal anecken
vieles bezwecken
andern was geben
sagenhaft wagen
etwas zu sagen
ohne zu schaden
nach sprache streben
hab viel schon geschafft
mich oft auf gerafft
mit unglaublicher kraft
gott gegeben
bin lang noch nicht satt
fühl mich nicht matt
spür noch viel tat
genieße das leben
(2011)
- Erklärt, was Pia Kollbach mit »mein autistisches Hirn« meint. Recherchiert dazu zum Begriff »Autismus«.
- Tauscht euch über die Selbstbeschreibung von Pia Kollbach aus: Pia behauptet, es gäbe beim Lesen von Lyrik »kein Richtig oder Falsch«. Nehmt kritisch Stellung zu dieser Position.
- Vergleicht das Gedicht von Annette von Droste-Hülshoff mit dem von Pia Kollbach. Worin ähneln sich die beiden Gedichte, worin ähneln sich u.U. die beiden Lyrikerinnen. Dazu müsst ihr vielleicht noch etwas mehr zum Leben von Annette von Droste-Hülshoff recherchieren. Das könnt ihr gut auf dieser Seite: LWL | Biographie - Droste-Portal
Ulla Hahn[1]: Weibliche Lyrik
Ebenso wenig wie es eine Definition von Lyrik gibt, die alle Epochen und Kulturen umspannt, gibt es eine »weibliche Lyrik«, eine »andere Sprache«. […] Behauptungen, ein Text lasse auf den ersten Blick erkennen, wes[2] Geschlechts, sein Verfasser sei, sind barer Unsinn. Der Raum der Kunst ist ein universeller Raum, wobei hier nicht diskutiert werden soll, welche Folgen es für das Schreiben von Frauen hat, dass die bestehende Kunst fast durchweg von Männern geschaffen wurde. Aber ist sie deswegen Männerkunst, die Frauen bestenfalls als Untersuchungsmaterial zum Nachweis von Unterdrückungsideologien etwas wert sein darf? […] Nein, wir verzichten auf zu vieles, wenn wir den Freiraum der Kunst – frei von Geschlechtsbezogenheit frei für das Menschliche, in allen phantasierbaren Spielarten – als männlich benutzt, abtun und damit akzeptieren und respektieren.
Andersherum wird ein Schuh, will sagen ein Kunstwerk daraus: Der Raum der Kunst ist universell. Das Geschlecht spielt dort eine Rolle unter vielen anderen soziokulturellen[3] Merkmalen, etwa der Kultur-, Rassen-, Religionszugehörigkeit. Wenn Frauen diesen Raum erobern, ist ihre biologische Bestimmtheit nur noch ein Merkmal unter vielen. Frauen dürfen ihr Geschlecht in diesem Freiraum ungestraft vergessen, müssen es aber nicht; können es vielmehr so selbstverständlich oder problematisch nehmen wie alle anderen Zuschreibungen auch. Den Stoff, das Thema sucht sich jede*r Autor*in nur bis zu einem bestimmten Punkt aus, das Thema sucht aber immer auch ihn*sie. Was Wunder, wenn Frauen im ersten Ansturm auf eine Männerbastion zunächst einmal auch im Freiraum der Kunst ihr Frausein die Diskriminierungen ihrer Weiblichkeit zur Sprache brachten und bringen. Das Schaffen und Aufnehmen von Kunst ist immer auch ein Akt der Befreiung. Dass Frauen den Freiraum der Kunst auch zur Befreiung von tradierten Bildern, Mustern, Zuschreibungen des Weiblichen aus männlicher Sicht nutzten, scheint mir historisch folgerichtig und notwendig, um »in einer Kultur, die nur männlichen Erfahrungen Wert beimisst, die eigenen weiblichen Erfahrungen wertvoll zu machen« und »über persönliche Belange hinaus […] uns gegenseitig unsere Wirklichkeit so aufrichtig und genau darstellen wie nur möglich« (Adrienne Rich).
Es ist aber weder ein Vorzug noch ein Makel, dies zu tun, und hat auch nicht im mindesten mit »weiblicher Ästhetik[4]« zu tun; es spielt sich vielmehr auf stofflicher Ebene bzw. in der Wahl der Perspektive ab. Über die Ästhetik, geschweige denn die Qualität eines Textes sagen – das ist eine Binsenweisheit – für sich weder Stoffwahl noch Sichtweise etwas aus. […] Entscheidend ist letztlich nie der außerästhetische Zweck, sondern das, was in Sprache aufgeht. Dass dabei neue Stoffe, neue Gegenstände, neue Sichtweisen auch neue ästhetische Merkmale produzieren, ist anzunehmen. Diese als »weiblich« zu bezeichnen, wäre aber genauso unsinnig wie die bisherigen »männlich« zu nennen. Solche von Autorinnen herausgebildeten Merkmale sind universell und stehen dem Autor ebenso zur Verfügung wie der Autorin die seinigen.
So wäre also die von Virginia Woolf[5] konstatierte Ausgrenzung heute im Literaturbetrieb noch wirksam, im freien Raum der Kunst jedoch auf dem besten Weg, sich in eine Chance zu verwandeln – für beide Geschlechter.
- Bearbeitet den Text zunächst, wie ihr es bei Sachtexten gewohnt seid. Zum Beispiel könnt ihr nach intensiver Lektüre
- Unterstreichungen, Fragen, Anmerkungen zu Textstellen machen,
- Überschriften zu den Absätzen schreiben,
- eine Visualisierung zum Argumentationsverlauf erstellen.
- Stellt euch vor, Ulla Hahn hätte diesen Text auf einer Internetseite für Lyrikliebhaber*innen veröffentlicht. Schreibt sowohl zustimmende als auch kritische Kommentare.
- Erläutert, ob und inwiefern aus eurer Sicht der Text von Ulla Hahn für die Lektüre von Annette von Droste-Hülshoff bzw. Pia Kollberg relevant sein könnte oder zumindest die Auseinandersetzung mit den angesprochenen Fragen.
Eine sehr ergiebige Seite, wenn man zum Thema Lyrikerinnen recherchieren will, ist die Themenseite »Berühmte Lyrikerinnen« von fembio.org
Außerdem kann man natürlich in sogenannten Anthologien die Vielfalt von Frauenlyrik entdecken (vgl. auch #WirLernenDazu):
Ulla Hahn klagt im Nachwort zu ihrer Lyrik-Anthologie[1]»Stechäpfel«: »Kaum etwas legt die marginale[2] Rolle der Frau in der Literaturgeschichte so bloß wie ihr verschwindender Anteil in den Anthologien aller Herren Länder. Nicht anders als in Politik und Wirtschaft sind, wenn es um die Repräsentanz von Macht und Kompetenz geht, auch heute noch die Frauen als Ausnahmen zu bestaunen. «
An diesem Umstand muss etwas geändert werden. Entweder setzt man sich als Frau selbst hin und schreibt ein Gedicht und wird Lyrikerin (wie Pia Kollberg, vgl. #WirWerdenNeugierig) oder/und man bringt Lyrik von Frauen unter die Leute (wie Ulla Hahn in ihrer Anthologie).
Eine Kunstform, die seit ein paar Jahren enorm an Popularität gewonnen hat, ist der Poetry Slam. Da der Poetry Slam eine Art kreativer Sport ist, der (unter anderem auch) Lyrik auf die Bühne und vor Publikum bringt, kann man sich sehr gut auf dem folgenden Kanal inspirieren lassen:
https://www.youtube.com/@PoetrySlamTV
Wenn es um die Frage geht, wie man selbst einen solchen Poetry Slam organisiert oder aber sich vorbereitet auf eine Teilnahme, kann man folgende Ressourcen nutzen:
Aufgaben – Fragen - Impulse
- Recherchiert, ob es in eurer Stadt oder in der Nähe eine Poetry-Slam-Bühne gibt. Vielleicht geht jemand aus eurer Klasse hin und berichtet anschließend den anderen davon. Erkundigt euch nach den Bedingungen, dort teilzunehmen.
- Poetry Slamer*innen leben oft auch davon, dass sie Workshops halten, in denen man lernt, wie man Texte schreibt und wie man einen Poetry Slam organisiert. Vielleicht könnt ihr jemanden zu euch in die Schule einladen?
- Lyrik ist kein Mainstream. Daher muss man schon mal ganz schön lange laufen, bis man jemanden trifft, der auch Lyrik mag. Wie wäre es, wenn ihr euch mit den Lyrik-Begeisterten der anderen Schulen eurer Stadt zusammentut? In manchen Städten gibt es eine Stadt-Schüler*invertretung – das könnte ein erster Kontakt sein.
- Hilfe und Unterstützung bei der Organisation eines Slams gibt es vielleicht auch vom örtlichen Theater oder der Stadtbibliothek.
Euer Projekt kann viele verschiedene Präsentationsformate haben. Hier eine kleine Auswahl: