Mondesaufgang

Das Gedicht entsteht im März 1844 in Meersburg. Das Ich steht an einem erhöhten Ort. Es beobachtet den Nacht-Einbruch. Der Mond lässt aber auf sich warten: Es wird immer dunkler. Zuerst verschwimmen die Umrisse. Dann kommen die Nachtfalter raus. Die Zeit zwischen dem Einbruch von der Nacht und dem Mondaufgang empfindet das Ich als bedrohlich: Ängste und Schuldgefühle überwältigen das Ich. Die Umrisse von den Bergen wirken wie Richter. Bereit zur Verurteilung. Endlich kommt die Erlösung: Der rettende Mond erscheint am Nachthimmel. Sein sanftes Licht erhellt den Blick. Auch die Gefühlswelt vom Ich hellt auf. Das Mondlicht spendet Trost und vertreibt die Ängste.
Thema
Natur Lyrik
Alter
10-99
Material
Text Audio
Sprache
Deutsch
Mondesaufgang
Mondesaufgang

An des Balkones Gitter lehnte ich
Und wartete, du mildes Licht, auf dich;
Hoch über mir, gleich trübem Eiskrystalle,
Zerschmolzen, schwamm des Firmamentes Halle,
Der See verschimmerte mit leisem Dehnen,
- Zerfloßne Perlen oder Wolkenthränen? -
Es rieselte, es dämmerte um mich,
Ich wartete, du mildes Licht, auf dich!

Hoch stand ich, neben mir der Linden Kamm,
Tief unter mir Gezweige, Ast und Stamm,
Im Laube summte der Phalänen Reigen,
Die Feuerfliege sah ich glimmend steigen;
Und Blüthen taumelten wie halb entschlafen;
Mir war, als treibe hier ein Herz zum Hafen,
Ein Herz, das übervoll von Glück und Leid,
Und Bildern seliger Vergangenheit.

Das Dunkel stieg, die Schatten drangen ein, -
Wo weilst du, weilst du denn, mein milder Schein! -
Sie drangen ein, wie sündige Gedanken,
Des Firmamentes Woge schien zu schwanken,
Verzittert war der Feuerfliege Funken,
Längst die Phaläne an den Grund gesunken,
Nur Bergeshäupter standen hart und nah,
Ein finstrer Richterkreis, im Düster da.

Und Zweige zischelten an meinem Fuß
Wie Warnungsflüstern oder Todesgruß,
Ein Summen stieg im weiten Wasserthale
Wie Volksgemurmel vor dem Tribunale;
Mir war, als müsse etwas Rechnung geben,
Als stehe zagend ein verlornes Leben,
Als stehe ein verkümmert Herz allein,
Einsam mit seiner Schuld und seiner Pein.

Da auf die Wellen sank ein Silberflor,
Und langsam steigst du, frommes Licht, empor;
Der Alpen finstre Stirnen strichst du leise,
Und aus den Richtern wurden sanfte Greise,
Der Wellen Zucken ward ein lächelnd Winken,
An jedem Zweige sah ich Tropfen blinken,
Und jeder Tropfen schien ein Kämmerlein,
Drin flimmerte der Heimathlampe Schein.

O, Mond, du bist mir wie ein später Freund,
Der seine Jugend dem Verarmten eint,
Um seine sterbenden Erinnerungen
Des Lebens zarten Widerschein geschlungen,
Bist keine Sonne, die entzückt und blendet,
In Feuerströmen lebt, in Blute endet -
Bist, was dem kranken Sänger sein Gedicht,
Ein fremdes, aber o ein mildes Licht!

 

 

Phalänen/Phaläne] Spanner aus der Schmetterlingsfamilie der Phalaenidae.

Verzittert] verzittern: hier: „von optischen erscheinungen ‚zitternd verzucken, verblassen‘“ (Grimm, Deutsches Wörterbuch).

Silberflor] Flor: zartes Gewebe, Schleier.